Man könnte in das eine oder andere Fachbuch schauen, aber in dieser schnelllebigen Zeit schmecken die dort enthaltenen Informationen wie das Bier von Vorgestern. Man könnte natürlich auch in Weinführer schauen, gute Idee, doch leider haben die eine Halbwertszeit von einem Jahr. Und nach einigen Jahren wird man natürlich dann für die gesamte Bibliothek einen Anbau an das Eigenheim planen müssen. Wenn es um die schnelle Information geht, gibt es nur eins, den Blick in Weinzeitschriften oder gleich in das Internet, um sich dort die Kritiken und vor allen Dingen die Kritikerbewertungen abzuholen. Und das hat zu ganz merkwürdigen Auswüchsen geführt.
Begonnen hat das alles mit einem gewissen Herrn Robert Parker, der zu Beginn der 80er Jahre den zunächst skeptisch begutachteten Bordeaux-Jahrgang 1982 mit Höchstnoten versah. Wohlgemerkt, die Zeit gab ihm recht, der erste wirklich warme Jahrgang in Bordeaux mauserte sich zu einer Art Jahrhundertjahrgang, gleichzeitig ging damit aber auch der Stern des von ihm gegründeten Wine Advocate auf. Er initiierte das 100 Punkte-Schema für Weinbewertungen, das Schule machen sollte und die Weinwelt gründlich umkrempelte. In vielen Fällen hat es das bis dahin übliche 20-Punkte-Schema abgelöst und hielt majestätischen Einzug in den vinophilen Alltag. Niemand hat bis heute von 20-Punkte-Verkostung gehört, aber jeder, der sich für hochwertige Weine interessiert, hat schon so etwas gehört wie »gehst Du auch zu dieser Bordeaux- oder Spanienverkostung? Ich sage Dir, kein Wein unter 95 Punkten«, von wem auch immer. Oder auch »ich war auf der 3 Gläser-Probe des Gambero Rosso«.
Mal kurz innegehalten, geht man in eine Opern- oder Schauspielinszenierung, die 97 von 100 Punkten bekommen hat? Oder liest man nur Bücher ab 98 Kritikerpunkten aufwärts? Das hat dazu geführt, dass es zu Weinen häufig zwei Meinungen gibt, seltener eine eigene. Die einen nämlich sind den Punkten, Gläsern, Sternchen, Blümchen, oder was auch immer, hoffnungslos verfallen und richten ihr Kaufverhalten genau danach, die anderen lehnen derartige Bewertungen rundheraus ab und handeln auch entsprechend. Doch kaum jemand nimmt die Kritikerbewertungen und Angaben als das, was sie eigentlich sein sollten – ein Fingerzeig, was könnte für eine bestimmte Person interessant sein. Und natürlich eine Momentaufnahme, denn Wein verändert sich ja kontinuierlich im Verlauf seiner Reife, manchmal zum Besseren, manchmal auch umgekehrt.
Zugegeben, leicht machen es einem die Herrschaften auch nicht, da werden hochklassige Weine zu einem Menü verkostet, das man selbst kaum wird nachvollziehen können, da es entweder in New York, in Shanghai oder Sydney stattfand, zum anderen kann man sich fragen, was Weinbeschreibungen wie »gebackene Kirschkerne« und »geröstete Pferdehaut« an Assoziationen auszulösen vermögen. Aber das sollte einem den Mut zu einer eigenen Meinung nicht nehmen. Kritiker sind nicht die Bibel, ob Buchkritiker, Theaterkritiker, oder eben Weinkritiker. Man kann Punkte und Beschreibungen als Anhaltspunkte gerne akzeptieren, aber auch ein Kritiker ist letztlich ebenso wenig im Besitz des Steins der Weisen, wie man selbst. Was so viel heißt – nur Mut zur Entdeckungsreise auf eigene Faust, und eben auch Mut zur eigenen Meinung.