Schaut man auf die Bewertung des 2022er Bordeaux-Jahrgangs, so haben sich unter den Kritikern und Journalisten vor allem zwei Positionen etabliert. Die eine ist die, die von Jean-Marc Quarin vertreten wird, der sehr euphorisch schrieb, dass viele Weingüter trotz der Hitze des Jahrgangs einige der besten Weine ihrer Geschichte erzeugt hätten. Die andere Position wird von William Kelley (Robert Parker’s The Wine Advocate) vertreten, der den Jahrgang als eher heterogen beschreibt. Nach seiner Aussage, konnten nur jene, die viel Zeit im Weinberg gearbeitet haben, hohe Qualitäten erreichen. Wer dort nicht sauber und penibel gewirtschaftet hat, so Kelley, habe allzu sehr mit der großen Hitze zu kämpfen gehabt. Ein Interview mit Pierre Enjalbert.
Wie hat sich der Jahrgang vor Ort präsentiert?
Für mich ist es ein großer Jahrgang! Ich habe in zwei Wochen über 400 Weine probiert. Und zwar sowohl die gesamten Spitzengewächse, als auch einfachere Cru Bourgeois oder nicht klassifizierte Gewächse wie Charmail, Dalem etc. Die Weine waren durchweg hervorragend. Daher kann ich William Kelleys Aussage nur bedingt nachvollziehen. Er schreibt von »rustikalen Tanninen«, die ich schlichtweg nicht entdeckt habe. Manche Winzer hatten in 2022 zwar tatsächlich die Angst, dass durch die Hitze die Weine überextrahiert schmecken könnten. Doch davon war nichts zu spüren, die Tannine waren beeindruckend rund und charmant. Ich bin durch die Bank begeistert – von den Top Chateaus bis zu den Einstiegsqualitäten sind in Bordeaux sehr schöne Weine entstanden.
Gab es Ähnlichkeiten mit 2003, einem Jahr, das ähnlich heiß war?
Ich glaube, dass die Weine im Vergleich zum Jahr 2003 viel besser sind. Vordergründig war 2022 zwar auch ein heißes Jahr, aber wenn man sich die Details anschaut, sieht man doch klare Unterschiede. In 2022 waren die Nächte kühler und die Hitzeperiode dauerte bei Weitem nicht so lang wie in 2003. Damals haben die Reben ja zwischenzeitlich ihre Entwicklung eingestellt, weil es zu heiß war und es gab wirklichen Trockenstress. So wurden die Tannine oft trocken und es fehlte die Frische. Im Gegensatz dazu hatten die Reben in 2022 noch genug Wasser und durch die Kühle der Nächte haben sich die Trauben ihre Frische bewahrt. Hinzu kommt, dass die Winzer zunehmend Erfahrung mit dem Klimawandel gewinnen und viel klarer darauf reagieren können. Die Bordelaiser machen sich seit Jahren Gedanken darüber, wie sie mit den Weinbergen verfahren, welche Möglichkeiten es gibt, um Wasser zu sparen, wie sie die perfekte Reife bei großer Hitze erreichen können. Im Keller ist essenziell, dass man nicht zu viel extrahiert, weil durch den geringen Wasseranteil das Verhältnis von Beerenschalen und Frucht anders ist. Auf all diese sich verändernden Parameter gehen die Chateaus ein.
Wie lässt sich der Jahrgang im Kontext der letzten Jahre einschätzen? Spannend im Vergleich wären ja auch 2019 oder 2021, die ja auch nicht gerade kühl waren.
2021 ist nicht vergleichbar. Das sind zwei sehr unterschiedliche Jahre und Stile. 2021 ein gutes Jahr für die Top-Chateaus. Aber es sind eher schlankere Weine mit hohem Trinkfluss entstanden. Der Jahrgang wird entsprechend gerne als »gastronomischer Jahrgang« bezeichnet. 2020 ist ein sehr, sehr gutes Jahr mit mehr Konzentration als 2021, und einem gleichzeitig kühleren Stil als 2022. Der Jahrgang 2022 geht mehr Richtung 2019, auch wenn er vielleicht vom Alkoholniveau etwas höher liegt. Aber wenn man körperreiche, konzentrierte Weine mag, dann ist 2022 ein großartiges Jahr, gerade weil die Fruchtaromen so präsent und frisch sind. Und die besten Weine verbinden die Wärme der Frucht mit einem schlanken Körper. Das sind die wahren Terroir-Weine, zu denen am linken Ufer Montrose oder Léoville Las Cases zählen oder am rechten Ufer zum Beispiel Canon la Gaffelière. Auch bei den Pauillacs nahe der Gironde, in Margaux bei Brane-Cantenac oder Château Margaux findet man diesen klaren Terroir-Charakter. Margaux hat zwar einen vergleichsweisen eher hohen Alkohol, aber der Eindruck ist trotzdem faszinierend schlank.
Manchmal sagt man, es sei ein Jahr der Rive Droite oder der Rive Gauche. Kann man für 2022 sagen, ob die eine Appellation erfolgreicher war als die anderen? Oder waren die Bedingungen in ganz Bordeaux konstant?
Entscheidend waren der Wasservorrat und das Terroir. Wenn man einen lehmigen Boden mit Wasserreserven besitzt oder wenn man sich auf dem Kalksteinplateau von Saint-Émilion befindet, dann hatte man in 2022 gute Karten. Aber auch Pomerol war sehr erfolgreich: Merlot auf lehmigen Böden in einem heißen Jahr ergibt dichte, opulente Weine. Die Weine mit einem hohen Anteil an Cabernet Franc besitzen eine große Tiefe und Komplexität. Dies ist zum Beispiel bei Vieux Château Certan der Fall.
Wie ist die Einkaufsstrategie für die 2022er? Besonders in guten Jahren heißt es, man soll die kleinen Weine kaufen, weil ein besonders gutes Preis-Geschmacks-Verhältnis bieten. Aber 2022 ist so gut und die Menge so gering, dass man sich auch Quarin anschließen kann, der schrieb: Kaufen Sie, so viel Sie kriegen können und so schnell wie möglich.
Es ist ein großes Jahr und man sollte die Weine auf keinen Fall verpassen. Die Weine werden mit Sicherheit gefallen und viel Genuss und Freude bereiten. Tatsächlich ist die Menge je nach Château teils 10, 20 oder sogar 30 Prozent geringer als 2020. Wenn man 2022 haben will – und viele werden 2022 haben wollen
– sollte man en primeur kaufen. Die Top-Weine werden später schwer zu bekommen und schnell vergriffen sein, weil viele dieser Weine schnell an Wert zulegen werden. Und tatsächlich sollte man nicht die Weine zwischen 15 und 30 Euro vergessen. Ich habe dort so viel Köstliches probiert! Zumal sich der Bordeaux- Stil nachhaltig zu verändern scheint. Der berühmte Michael Roland hat früher Weine im Übersee-Stil gemacht: vollfruchtig, mit viel Holz, Extrakt und Dichte. Önologen wie Thomas Duclos zum Beispiel machen genau das Gegenteil. Ihnen gehtes um das Pure und Klare im Wein als Ausdruck des einzigartigen Terroirs. Diese Weine wirken schon jetzt viel ausgewogener. Mit dieser klaren Frucht, dieser Reduktion auf das Wesentliche, die jetzt wieder gesucht wird – und die Bordeaux ja lange Zeit besessen hat – wirken die Weine ganz anders, weil die Balance eine andere ist. Das ist modern und traditionell zugleich. Es ist das neue Bordeaux und das finde ich sehr, sehr spannend.